Surfen beim Fernsehen
Die Möglichkeiten des Second Screen
Fernsehen und gleichzeitiges Surfen auf Tablet, Smartphone oder Notebook ist zur Gewohnheit geworden. Das als "Second Screen" bekannte Phänomen ruft Sender und Werbetreibende zum Kampf um den Bildschirm und die Aufmerksamkeit auf. Clever genutzt, kann der zweite Bildschirm ein riesiges Potenzial bieten.
Das Duell der Kanzlerkandidaten vor der Bundestagswahl ist traditionell eine der wenigen Gelegenheiten, bei der fast die ganze Nation vor dem Bildschirm versammelt ist. Während die Auftritte von Merkel und Steinbrück viele Zuschauer eher gelangweilt haben, fand auf dem zweiten Bildschirm ein wahres Feuerwerk statt: Mit im Schnitt 32 Tweets pro Sekunde wurde das TV-Duell auf Twitter kommentiert, 2.622 Kurznachrichten pro Minute und insgesamt 173.000 Duell-Tweets wurden gezählt.
Weltweit war #TVduell zwischenzeitlich der am meisten genutzte Hashtag. Nebensächlichkeiten wie die Halskette der Kanzlerin bekamen ruckzuck einen eigenen Twitter-Account (@schlandkette), der noch während der Sendung 5.000 Follower einsammelte. Das Beispiel zeigt: Fernsehen kann bei gegebenem Anlass durchaus wieder Ereignisse bieten, über die die Nation spricht.
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Das Fernsehen war früher der viel bemühte "Lagerfeuer-Ersatz", um den sich die Familie versammelte und gemeinsam das Programm ansah - und sich darüber unterhielt. In den letzten Jahren hat der Fernsehkonsum keineswegs nachgelassen, jedoch stieg mit der Anzahl der Sender und On-Demand-Angebote der Anteil der Zeit, in der man allein fernsieht.
Das Comeback des Lagerfeuers
Die soziale Komponente - kommentieren, mitraten, Witze reißen etc. - findet heute über Twitter, Facebook und andere Kanäle und per Smartphone, Tablet oder Laptop auf dem Sofa statt, wie eine aktuelle Studie von TNS Infratest belegt: Danach ist die private Internet-Nutzung in den letzten Jahren von rund 50 Minuten pro Tag (2008) auf aktuell 80 Minuten deutlich gestiegen. Das heißt aber nicht, dass das Internet den Fernseher ersetzt.
Im Gegenteil: Der Fernsehkonsum ist mit 160 Minuten pro Tag seit einiger Zeit in allen Altersgruppen relativ hoch. Die Erklärung hierfür ist simpel: Es wird heute gerne neben dem Fernsehen im Internet gesurft. Laut der Studie tun das 28 Prozent - quer durch alle Alters- und Zielgruppen (befragt wurden 14- bis 64-Jährige). In den USA, bekanntlich oft eine Art "Vorreiter" für den Trend der nächsten paar Jahre, surfen laut einer Studie von nielsen.com heute bereits 87 Prozent sämtlicher Smartphone- und Tablet-Besitzer beim Fernsehen.
Die Fernsehsender haben bisher mit gemischten Gefühlen auf den Trend reagiert, doch das ändert sich gerade, wie Björn Zaske, Geschäftsführer der Agentur Moccu , aus Berlin berichtet: "Die TV-Sender sind sich dessen bewusst und nehmen das als Chance wahr. Sie sind inzwischen sogar sehr heiß auf das Thema, wenngleich oft auch noch eine gewisse Berührungsangst da ist."
Der Second Screen ist laut Zaske ein neues Medium, das Umdenken verlangt und viele Fragen aufwirft: Wer ist in den Sendeanstalten dafür verantwortlich? Wie wirkt sich das auf die Quote aus? Sollte man sich zurückhalten? Wird es eine Kannibalisierung geben? "Es ist aus Sicht der Sender ein zweischneidiges Schwert," kommentiert Zaske, bestätigt aber, dass inzwischen die Sender immer mehr die positive Seite - Chancen und Möglichkeiten - begreifen.
Praxis: Diese Apps steuern den Fernseher
Die Berliner Agentur kam selbst eher zufällig auf das Thema, das sich inzwischen jedoch zu einem Wettbewerbsvorteil mausert, der auf großes Interesse stößt. Erfahrung sammelte das Team mit Second-Screen-Anwendungen für das ZDF, zuletzt sogar für die Quizshow Wetten, dass...?. Seit dem erfolgreichen Referenzprojekt entstehen immer mehr Projekte im Second-Screen-Bereich. Interessierte können sich in einem Whitepaper umfassend zu Studien, Technik und Praxistipps informieren.
Sendungen zum Mitmachen
Bei der Ideenentwicklung für Second Screen - wie für alle anderen digitalen Medien auch - ist es wichtig, das Verhalten der Nutzer zu studieren. Was tun die Nutzer also, wenn sie parallel zum Fernsehen surfen?
Laut der Studie von Infratest verschicken die meisten Parallelnutzer E-Mails oder chatten, 21 Prozent tauschen sich per Social Media über die gerade laufende Sendung aus, 28 Prozent intensivieren den im TV gesendeten Content mit detaillierten Inhalten von Wikipedia und Co. und 26 Prozent nutzen die Impulse, die in Werbung und überhaupt auf dem TV-Schirm gezeigt werden, um zu shoppen oder sich über die Produkte zu informieren.
Eine weitere Studie (von Ericsson Consumer Lab TV & Video) zeigt, was die Parallelnutzer antreibt: Es sind der Wunsch, nicht allein zu schauen, zu hören, was andere zur Sendung meinen, die Suche nach Zusatzinfos und überhaupt das Bedürfnis, mit dem TV-Programm und anderen zu interagieren.
Praxis: Apps fürs Video-Streaming
Das schon seit über einem Jahrzehnt auf der IFA in Berlin oft vorausgesagte interaktive Fernsehen ist bis heute trotz aller App-fähigen Internet-Fernseher nie wirklich passiert. Erst jetzt wird es - dank stetig zunehmender Smartphone- und Tablet-Nutzung Realität. Die Medien und die Werbetreibenden müssen nur noch mit ihren Anwendungen auf den fahrenden Zug aufspringen.
Mit HbbTV 2.0, dem modernen und herstellerunabhängigen Teletext, soll vom Voting auf Knopfdruck über den Zugriff auf soziale Netzwerke, Zusatzinfos zum Programm und interaktive Werbung bis zum Shopping per Fernbedienung alles möglich sein. Der große Vorteil hier ist, dass Second Screen und TV-Gerät miteinander kommunizieren, sodass Eingaben, etwa im Browser, einfach via Tablet am TV erfolgen können.
Sendungen und Formate zum Mitmachen gibt es bei vielen Sendern schon. Alle Live-Sendungen wie Preisverleihungen und Events, Shows, Sportveranstaltungen und Casting-Shows eignen sich hervorragend für Echtzeit-Abstimmungen während der Sendung und Zusatzinhalte über den zweiten Bildschirm. So wie die Bonus-Disc auf einer DVD oder Blu-ray können die Apps Zusatzmaterial wie Backstage-Bilder bieten - zu sehen etwa bei der Wetten, dass...?-App.
Praxis: Drahtlose Übertragung mit NFC, Miracast & Co.
Bei ProSieben heißt die Gratis-App ProSieben Connect: Sie sendet Zusatzinhalte etwa zu Germany's Next Topmodel. Für den Sender und die Werbetreibenden ist dies ein cleverer Schachzug: Das Zappen in der Werbepause wird damit abgestellt, die Zuschauer bleiben am Bildschirm und die Quote wird besser.
Mehr bieten, aber nicht ablenken
Gute Second-Screen-Apps zu gestalten ist eine neue und besondere Disziplin. Die Macher haben einige Hürden zu überwinden. Nicht nur technische: zum Beispiel eine App zu gestalten, die auf allen gängigen Mobilgeräten und Bildschirmgrößen mit einem einheitlichen Erlebnis funktioniert.
Daneben gibt es einige "Do's und Don'ts", die man beachten sollte. "Es gibt schon mal drei Zustände: vor, während und nach der Sendung," erklärt Zaske und nennt ein Beispiel: "Man muss während einer Sendung immer genau ausbalancieren, dass, wenn auf dem First Screen etwas passiert, nicht gleichzeitig zu viel auf dem Second Screen los ist. Man sollte kein fünf Minuten langes Video auf dem zweiten Bildschirm zeigen, während die Sendung läuft."
Alles, was bei der Wetten, dass...?- App passiert, wird live von der Online-Redaktion betreut. Auf dem zweiten Screen sind hier Zusatzinhalte platziert, die nicht so stark mit dem ersten Bildschirm interagieren. Die Zurückhaltung ist bewusst gewählt, um die Zuschauer nicht mit komplexen Interaktionen und zu vielen Daten gleichzeitig zu überfordern. Björn Zaske kann sich noch viel stärker vernetzte Konzepte vorstellen: zum Beispiel die Quizshow, die mit dem zweiten Bildschirm stattfindet.
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"Es werden sich neue, eigens auf zwei Bildschirme ausgelegte Formate etablieren, die auf einer wirklich zusammengegossenen First- und Second-Screen-Interaktion basieren," glaubt man bei Moccu, warnt aber gleichzeitg vor Ideen, wie dem "interaktiven Tatort". "Alternate Reality-Konzepte wie beim Tatort wurde von vielen als zu kompliziert empfunden; unverständliche Interaktionsszenarien führen zu Frust. Die Leute haben keine Lust auf Suchspiele," ist Moccu-Geschäftsführer Zaske überzeugt.
Shopping von der Couch aus
Aus Sicht der Sender und vor allem der Werbeindustrie bietet der Zweitbildschirm ein riesiges Potenzial: Endlich können die Sender über die App zuverlässig nachvollziehen, was die Zuschauer anschauen. Es wäre ein Leichtes, passende Werbung anzubieten, zum Beispiel die Kleidung und Produkte der Stars aus einer Sitcom. Einmal antippen reicht zum Kaufen dann auch aus.
Watch With eBay
Bietet ein Sender noch die Anmeldung per Facebook-Profil an, würden die Zuschauer noch transparenter: Ihre Profildaten wie Geschlecht, Alter, Wohnort, Hobbys und die Freundesliste zu kennen liefert das perfekte Umfeld für passende Werbung und Shopping-Produkte. Letztlich muss sich der Aufwand für die Produktion einer Second-Screen-Anwendung für die Macher in irgendeiner Weise lohnen - Stichwort: "Monetarisierung" -, sei es durch Umsatzsteigerung oder höhere Einschaltquoten.
Second Screen steht hier noch ganz am Anfang. In den USA gibt es bereits die App Watch with ebay, die zum Beispiel automatisch die zum NBA-Basketballspiel passenden Produkte heraussucht und anbietet. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch wir öfter beim sogenannten "Couch Commerce" dabei sind.
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